Zum Inhalt der Seite

Vom Sehen und Gesehenwerden

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Shinjitsu – Wahrheit

Aoi:

 

Ich nehme die Hände von der Tastatur, lege den Kopf schief und lausche. Das ist Reitas Auto, das gerade in unsere Einfahrt einbiegt, oder? Ich kenne keinen Wagen, dessen Auspuff so grenzwertig laut ist, wie der meines liebsten Freundes. Unsere gediegenen Nachbarn würden es nie wagen, auf eine solche Art und Weise auffällig zu sein, aber Reita kümmert sich nicht darum, was andere denken, das hat er noch nie. Ich stehe auf, verlasse mein Arbeitszimmer und gehe die Stufen hinunter ins Erdgeschoss. Wollte er sich nicht mit Tora in der Stadt treffen? Eigenartig. Ich öffne die Haustür und lehne mich abwartend gegen den Rahmen. Vielleicht hat er nur etwas vergessen; wundern würde es mich nicht. Wie erwartet höre ich keinen Moment später das Zuschlagen der Wagentüren und Schritte auf dem Kies, die sich dem Haus nähern. Reita scheint Tora mitgebracht zu haben, denn ich kann zwei Umrisse erkennen. Dann hat er also doch nichts vergessen. Ich lächle und öffne den Mund, um die beiden zu begrüßen. Derart durch meine Annahme getäuscht, bemerke ich zu spät, dass es nicht Tora ist, der nun vor mir steht.

 

„Hallo, Aoi“, murmelt eine vertraute Stimme, die ich in den letzten Tagen schmerzlich vermisst habe. Mein Mund klappt unverrichteter Dinge wieder zu. Nun erkenne ich auch seine schmale, hochgewachsene Gestalt und die dunklen Haare, die das blasse Oval seines Gesichts stets halb verbergen.

 

„Uruha“, hauche ich, zu keiner weiteren Reaktion fähig. Ich spüre Reitas Hand auf meiner Schulter, wie er diese kurz drückt, bevor er sich an mir vorbei ins Haus schiebt. Wir haben in den letzten Tagen so oft über das gesprochen, was geschehen war. Mindestens genauso oft wollte mein Freund mich davon überzeugen, dass ich mich über Uruhas eindeutigen Wunsch hinwegsetzen und mich bei ihm melden soll. Er hatte mich beinahe soweit, aber ich habe widerstanden und ihn gebeten, sich nicht einzumischen. Ganz offensichtlich vergebens – Verräter. Mein Mund fühlt sich wie ausgetrocknet an und der Schwindel in meinem Kopf erinnert mich daran, dass ich in den letzten Sekunden das Atmen eingestellt habe. Gierig schnappe ich nach Luft, während Uruha stumm und scheinbar abwartend vor mir steht. Warum hat Reita das getan? Uruha räuspert sich unbehaglich, aber noch immer schaffe ich es nicht, meine Erstarrung abzuschütteln.

 

„Können wir reden?“

 

Jetzt? Dieses Wort hätte ich ihm am liebsten entgegengeschrien. Nach beinahe einer Woche steht er hier und will reden. Eine Woche, die mir wie eine Unendlichkeit vorgekommen ist. Ausgerechnet jetzt, wo ich nicht mehr alle zehn Minuten auf mein Handy sehe, weil ich befürchte, seinen versprochenen Anruf verpasst zu haben. Bis eben war ich stolz auf mich, das Mobiltelefon heute noch nicht in den Fingern gehabt zu haben, aber was nutzt mir diese selbstauferlegte Beherrschung nun? Absolut nichts. Jetzt, da Uruha vor mir steht, ist sie wieder da – die Sehnsucht, die mir in den letzten Nächten den Schlaf und tagsüber den Verstand geraubt hat.

 

„Natürlich, komm rein“, höre ich mich gefasster sagen, als ich mich fühle, und drehe mich herum, darauf vertrauend, dass er mir folgt. Ich überlege, ob wir ins Wohnzimmer gehen sollen, entscheide mich dann aber für die Küche. Neutraler Grund erscheint mir für unser Gespräch am sinnvollsten.

„Möchtest du etwas trinken?“

 

„Ein Wasser, bitte.“

 

Ich nicke, hole ein Glas und eine Flasche Mineralwasser, stelle beides auf den Küchentisch, bevor ich mich zur Arbeitsplatte umdrehe und den Wasserkocher einschalte. Etwas Stärkeres wäre mir zwar lieber, aber irgendetwas sagt mir, dass ich bei klarem Verstand sein sollte, egal, was mir Uruha offenbaren will. Während ich mir also einen Tee aufbrühe, hoffe ich, er würde zu reden anfangen, solange meine Hände noch beschäftigt sind, aber er schweigt. Erst, als ich mich mit meiner dampfenden Tasse ihm gegenübersetze und auffordernd in seine Richtung sehe, räuspert er sich erneut.

 

„Ich habe vorhin versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen.“

 

„Ach?“

Ehrlich verblüfft hebe ich eine Augenbraue und erkenne seine Worte als das, was sie sind, ein Einstieg in das, worum es ihm wirklich geht.

„Ich war beschäftigt. Mein Handy hängt im Wohnzimmer am Strom, da habe ich es wohl nicht gehört.“

 

„Ja~“, zögert er das, was er sagen will, noch länger hinaus, und wäre ich nicht so enttäuscht und verletzt, hätte ich Mitleid mit ihm. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich es ihm leichter machen soll, denn ich weiß noch immer nicht, was schiefgelaufen ist. Welchen Fehler habe ich gemacht, dass er Hals über Kopf die Flucht ergriffen hat? So oft habe ich diesen einen Moment in Gedanken durchgespielt, aber mir will keine plausible Erklärung einfallen. Zu allem Überfluss hat die mir von ihm unfreiwillig auferlegte Funkstille nicht dazu beigetragen, mich weniger in Schuld und Zorn gleichermaßen gären zu lassen.

 

„Hör mal, Uruha“, beginne ich einige Minuten der unangenehmen Stille später, weil ich nicht mehr stumm hier sitzen kann.

„Ich weiß zwar noch immer nicht, was ich falsch gemacht habe, aber egal, was es war, es tut mir aufrichtig leid.“

 

„Nein“, sagt er energisch und erhebt sich von seinem Stuhl.

„Aoi, bitte, mir tut es leid. Ich hätte es dir schon viel früher sagen sollen.“

 

„Was denn? Was hättest du mir sagen sollen.“

Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Kommt nun alles ans Licht? Sagt er mir nun, dass er mit der unkonventionellen Art, wie Reita und ich unsere Freundschaft … Liebe leben, nicht klarkommt? Muss ich mich nun als beziehungsunfähig und egoistisch bezeichnen lassen, wie es in der Vergangenheit durchaus schon vorgekommen ist? Bislang sind derartige Vorwürfe an mir abgeprallt, aber ich kann nicht einschätzen, wie ich reagiere, sollte ich so etwas nun aus Uruhas Mund hören. Mit ihm ist alles anders. Noch nie habe ich, Reita ausgenommen, so für einen anderen Menschen empfunden.

 

Uruhas leises Seufzen, das fast wie ein Aufschluchzen klingt, reißt mich aus der Spirale meiner Befürchtungen. Was ist nur los mit ihm? Noch immer steht er halb aufgerichtet vor mir, den Tisch beinahe wie eine physikalische Barriere zwischen uns.

 

„So geht das nicht“, bestimme ich halblaut, stehe ebenfalls auf und trete an seine Seite.

„Hey.“ Meine Stimme ist sanft, genau wie die Hand, die ich auf seine Schulter lege. Fast glaube ich, mich einem verletzten Tier zu nähern, das jeden Moment aufspringen und davonlaufen könnte. Ein Zittern erfasst seinen Körper, lässt mich wünschen, ihn in meine Arme nehmen zu können.

„Ich weiß nicht, wovor du so eine Angst hast, aber ich muss nicht mal deinen Gesichtsausdruck sehen können, um zu spüren, dass es dir nicht gut geht. Rede mit mir.“

Beschwörend sehe ich ihn an, wünsche mir nicht zum ersten Mal, ihn wirklich erkennen zu können. Um wie vieles leichter wäre es, seine Regungen nicht nur zu erahnen, sondern Gewissheit zu haben.

 

„Ich wollte dich nicht verletzen und ich weiß, dass ich es damit, mich so lange nicht gemeldet zu haben, nur noch schlimmer gemacht habe. Es tut mir ehrlich leid.“

 

„Ich glaube dir“, sage ich und kaum, dass ich die Worte ausgesprochen habe, setzt sich die Gewissheit in meinem Herzen fest, dass sie der Wahrheit entsprechen. All die Wut, all das Unverständnis der letzten Tage ist verpufft und ein Gefühl der Ratlosigkeit macht sich in mir breit.

„Bitte sag mir, was los ist. Ich muss verstehen, warum du weggelaufen bist. Hab ich etwas falsch gemacht? Ist es doch wegen Reita und mir?“

Nun habe ich meine größte Befürchtung laut ausgesprochen und für einen Moment legt sich bleischwere Stille über uns. Uruhas Hände umfassen die meinen, ziehen sie nach oben, bis er seine Stirn gegen die Knöchel legen kann. Eine eigenwillige Haltung, aber ich bin nur froh, dass er mich diesmal nicht unwissend zurücklassen will. Er braucht Zeit und ich versuche, meine Ungeduld im Zaum zu halten.

 

„Es … hat nichts mit Reita und dir zu tun“, beginnt er stockend und mit so brüchiger Stimme, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen.

„Ganz im Gegenteil. Ich hatte in den letzten Tagen ausreichend Zeit, über alles nachzudenken.“

 

„Ja?“ Ich kann nicht anders, hatte sich meine Ungeduld gerade noch gelegt, ist sie nun mit voller Macht zurück.

„Und wohin haben dich deine Überlegungen geführt?“

Uruha lacht leise, ein wässriger Laut, der meine Vermutung bestätigt, dass sein Zittern nicht ausschließlich von emotionalem Stress herrührt.

 

„Zurück zu dir … aber ich weiß nicht, ob du mich überhaupt willst, wenn du erst einmal die Wahrheit kennst.“

Das Glücksgefühl, welches sich bei Uruhas Worten in mir breitgemacht hat, schwächt sich ab, als erneut Zweifel in mir aufsteigen. Welche Wahrheit, wovon spricht er?

 

„Ich verstehe nicht …“

Sein Zittern wird stärker, als er den Klammergriff um meine Hände löst, um meine Rechte zu seiner linken Wange zu dirigieren. Die Gesichtsseite, die stets von seinen Haaren verborgen ist. Im ersten Moment verstehe ich nicht, spüre nur warme Haut unter meinen Fingerkuppen und Feuchtigkeit, die eindeutig von Tränen rührt, doch dann fühle ich es. Wulstige Narben, die sich über seine Wange ziehen, wie ein Wurzelgeflecht. Meine Augen weiten sich vor Entsetzen. Kein Wunder, dass er zurückgewichen ist, als ich ihn vor Tagen dort berührt habe. Es war mir nicht aufgefallen, zu sehr war ich in den wohligen Gefühlen versunken, die er und unser Kuss in mir ausgelöst hatten. Für ihn jedoch musste diese unbedachte Berührung wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.

 

„Oh Uruha“, entkommt mir, ohne, dass ich die Worte aufhalten kann.

„Das habe ich nicht gewollt. Ich bin so ein Trampel.“

 

„Nicht“, wispert er und ich fühle kurz den Druck seines Fingers auf meinen Lippen.

„Du hast es nicht gewusst, du hast keinen Fehler gemacht.“

 

„Ich hätte besser achtgeben müssen.“

Ich höre, was er sagt, verstehe, was er meint, dennoch nagen Schuldgefühle an mir. Mir war aufgefallen, dass er sich zeitweise eigenartig verhalten hat, als würde er sich vor mir verstecken wollen. Aber es war so viel passiert an diesem Abend, dass ich es als nicht so wichtig abgetan habe. Wie dumm von mir.

 

„Aoi bitte, gib dir nicht die Schuld an Dingen, für die du nichts kannst. Außerdem … das ist nicht der alleinige Grund, weshalb …“

Ich spüre seine Gesichtsmuskeln unter meinen Fingern arbeiten. Kneift er die Augen zusammen oder presst er die Kiefer aufeinander? Egal, was auch immer, es ist ein Ausdruck seiner Anspannung.

„Ich bin nicht ehrlich zu dir gewesen“, flüstert er und seine Finger krallen sich schmerzhaft in mein Handgelenk, als ich ihn von meiner Berührung erlösen will.

„Was auch immer du in mir gesehen …“ Er bricht ab und formuliert seinen Satz neu.

„Welchen Eindruck du auch immer von mir hattest, er ist nichts als eine Maske gewesen.“

 

„Das …“ Ich schüttele den Kopf, um meine wild durcheinander rasenden Gedanken in eine klare Linie zu zwingen.

„Mir tut es leid, dass es dir unangenehm war, von mir … dort berührt zu werden. Klar, ich habe es nicht gewusst, aber ich hätte besser aufpassen müssen.“

 

„Verstehst du denn nicht?“

Nun lässt Uruha mich los, geht einen Schritt zurück und ich erkenne seine plötzlich harschen Worte als das, was sie sind. Ein letzter verzweifelter Versuch, nicht erneut den Mut zu verlieren.

„Unter anderen Umständen hätte ich nie mit dir gesprochen, wäre nie mit zu dir gefahren, hätte dich nie … nie … geküsst.“

 

„Unter welchen anderen Umständen denn?“

Beschwörend hebe ich beide Hände, nun selbst der Verzweiflung nahe, weil Uruhas Schmerz beinahe greifbar zwischen uns hängt, seine Worte jedoch keinen Sinn ergeben.

 

„Wärest du nicht fast blind und würdest mich sehen.“

Uruhas Stimme ist monoton und bar jeder Emotion, als er mir mit seinen Worten ein Messer direkt zwischen die Rippen sticht. Mir stockt der Atem, während sich der Schmerz in mir wie ein dunkler Nebel ausbreitet. Da ist sie also, die Wahrheit, die nun bleischwer zwischen uns hängt.

Das Gesagte hallt in mir nach wie ein Paukenschlag, bringt jede Faser meines Körpers zum Erbeben. Ich spüre, wie meine Augenwinkel brennen, halte die Tränen jedoch zurück. Wie betäubt gehe ich zurück zu meinem Stuhl, lasse mich darauf sinken.

„Es tut mir leid, ich …“

Stoff raschelt, vermutlich zuckt Uruha mit den Schultern, weil ihm die Worte fehlen. Was sollte er auch sagen? Nicht einmal ich weiß genau, was ich denken oder wie ich auf seine Wahrheit reagieren soll.

„Ich sollte besser gehen.“

 

„Nein!“ Dass ich in dieser Situation noch so energisch sein kann, habe ich nicht für möglich gehalten, aber die Aussicht darauf, dass er gehen und mich erneut mehr oder weniger ahnungslos zurücklassen könnte, ist unerträglich.

„Bitte bleib, lass uns reden.“

 

„Aber …“ Es dauert lange, aber irgendwann kommt er meiner Bitte nach und setzt sich wieder an den Tisch.

 

„Was bin ich für dich?“

 

„Ich verstehe nicht?“

 

„War ich nur eine ungefährliche Möglichkeit für dich, deine eingerosteten zwischenmenschlichen Fähigkeiten wieder zu trainieren? War ich so lange gut genug, bis … bis …“

‚Bis wir uns zu nahe gekommen sind und ich an deinem Panzer gekratzt habe?‘

 

„Ich wollte dich nie ausnutzen …“

 

„Du meinst wohl meine Blindheit.“

 

„Ich … ja … Bitte glaub mir, dass mich das zwischen uns einfach überrollt hat. Ich hätte nie gedacht, dass mir jemals ein Mensch in so kurzer Zeit so wichtig werden könnte, wie du. Ich hatte Angst, an diesem Abend, Angst, dass du die Narben bemerkst, dass du dich vor mir ekeln könntest. Ich habe das schon zu oft erlebt …“

 

Nun fallen die Tränen, weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Mein Herz ruft nach Uruha, verlangt danach, ihn in den Arm zu nehmen, den Schmerz aus seiner Stimme mit zarten Worten und Küssen zu vertreiben. Mein Verstand nennt mich einen Dummkopf, besteht darauf, gekränkt und verletzt zu sein. Wie soll ich ihm verzeihen? Wie kann ich es nicht tun? Ich reibe mir über die Augen, verbanne die Feuchtigkeit und straffe die Schultern.

 

„Du hättest mir das nicht sagen müssen, das war mutig von dir“, sage ich schlussendlich, kann jedoch die Kränkung nicht aus meiner Stimme tilgen. Ich kann ihm nichts vormachen, kann nicht so tun, als würde ich über den Dingen stehen.

„Darum will ich jetzt auch ehrlich zu dir sein – ich weiß nicht, was ich denken, geschweige denn fühlen soll.“

 

„Es tut mir leid.“

Ein tonloses Hauchen, das sich so schwach anhört, wie die zusammengesunkene Gestalt mir gegenüber auf mich wirkt.

 

„Es tut weh, zu wissen, dass ausgerechnet meine Behinderung, die mir mein Leben so schwer macht, nun dafür verantwortlich sein soll, dass ich überhaupt den Hauch einer Chance bei dir hatte.“

 

„Hast.“

 

„Was?“

 

„Du HAST eine Chance bei mir, eine sehr Große sogar … wenn du sie haben willst.“

 

Ich kann nicht anders, meine Nerven liegen so blank und meine Emotionen sind so roh, dass mir ein heiseres Lachen über die Lippen kommt, noch bevor ich es aufhalten kann. Ich schüttele den Kopf, verberge für einen Moment mein Gesicht hinter beiden Händen.

 

„Ich wollte nie etwas anderes.“

 

Ich höre die Stuhlbeine über den Fliesenboden kratzen und spüre zwei Atemzüge später Uruhas Präsenz neben mir. Er kniet sich vor mich, spiegelt die Haltung, die ich vor einigen Tagen genau an diesem Ort eingenommen hatte. Ich hebe den Kopf und plötzlich sind sich unsere Gesichter ganz nah.

 

„Ich wollte dir nie wehtun, ich hab nur so große Angst.“

 

„Vor was?“

 

„Davor, dass du mich abstoßend findest, genau wie die anderen vor dir.“

Ich hebe die Hand, streichle erst über Uruhas weiche Haare, bevor ich es wage, ihm die Strähnen hinters Ohr zu schieben. Für meine schlechten Augen ist sein Gesicht makellos und obwohl ich weiß, dass die Narben da sind, kann ich sie nicht erkennen. Ich kann mir nicht vorstellen, ihn jemals abstoßend zu finden. Es waren seine Stimme, seine zurückgezogene Art, die ihn für mich interessant gemacht haben und es waren seine Herzlichkeit, seine Wärme, in die ich mich letzten Endes verliebt habe. Sein Aussehen war nie ausschlaggebend und ist es auch jetzt nicht.

„Wärest du damals nicht über die Kisten gestolpert und hätte ich in dem Moment nicht ausschließlich daran gedacht, dich nicht fallen zu lassen, wären wir nie ins Gespräch gekommen, verstehst du?“

Ich nicke unwillkürlich und Uruhas Stimme wird kräftiger, als verlöre er sich in den Erinnerungen, die auch in mir wie ein Daumenkino vorbeiziehen.

„Ich fand dich von Anfang an interessant, hatte mir immer ausgemalt, wie es wäre, mit dir zu sprechen, aber mich nie getraut. Und dann kamst du plötzlich nicht mehr, monatelang.“

Ich weiß genau, wovon er redet, spüre noch heute die langen Finger der Depression, die damals, nach der erneuten Verschlechterung meiner Sehbehinderung, jeden Aspekt meines Alltags kontrolliert hatte. Wäre Reita damals nicht an meiner Seite gewesen, hätte mich unterstützt und die Geduld eines Heiligen besessen, ich wüsste nicht, wo ich heute wäre. Es war mir so schwergefallen, wieder das Haus zu verlassen. Es waren Gedanken an das Kiseki, an den Buchhändler mit der Samtstimme, dessen unnahbare Art mich so faszinierte, die mich haben kämpfen lassen. Ich wollte meinen Weg zu Uruha wieder alleine finden, wollte mir die Chance, ihn irgendwann auf mich aufmerksam zu machen, nicht von meinen dummen Augen durchkreuzen lassen. Genaugenommen ist Uruha mit verantwortlich, dass ich nicht aufgegeben habe, und irgendwann werde ich ihm das auch sagen. Aber nun senkt er den Kopf, spricht leiser weiter: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich dich endlich wiedergesehen habe. Ich hatte mir geschworen, dich anzusprechen und es doch nie geschafft. Und dann …“

Er schnaubt ein kleines, wässriges Lachen, das mich wärmt und mich erneut wünschen lässt, ihn einfach in die Arme nehmen zu können. Allerdings ahne ich, dass es falsch wäre, ihn jetzt zu unterbrechen.

 „Ich konnte es nicht fassen, als wir nach deinem kleinen Beinahe-Unfall tatsächlich ins Gespräch gekommen sind. Ich habe mich von der ersten Minute an so unendlich wohl in deiner Gegenwart gefühlt. Ich konnte so sein, wie ich bin, ohne befürchten zu müssen, eine kleine Bewegung, ein falscher Blick könnte mir alles nehmen …“

Nun verstummt er und erneut ruft mein Herz nach ihm. Ich versuche, mich in seine Situation hineinzuversetzen, überlege, wie ich an seiner Stelle gehandelt hätte, und komme zu dem Schluss, dass ich seine Beweggründe mehr als nachvollziehen kann. Ich öffne den Mund, aber Uruha kommt mir zuvor, als er kaum verständlich wispert: „Ich habe mich in dich verliebt.“

Ich höre das Zittern in seiner Stimme. Hat er noch immer Angst, ich würde ihn von mir stoßen?

„Bitte verzeih mir.“

 

Er hebt den Blick, sucht und findet meine Augen. Ich kann nicht blinzeln, kann nicht atmen, während eine wohltuende Wärme jeden Winkel meines Körpers auszufüllen beginnt. Meine Kränkung wirft die Hände über den Kopf, schüttelt selbigen und trottet mit geschlagenen Schritten aus meinem Unterbewusstsein. Gut so, selbst sie scheint begriffen zu haben, dass ich Uruha nicht böse sein kann … will. Was muss er alles durchgemacht haben, um sich so von allem und jedem abzukapseln, dass es einen tollpatschigen Blinden braucht, um ihn ein Stück weit aus seinem Schneckenhaus zu locken? Dieser Gedanke lässt meinen rechten Mundwinkel zucken und ich werfe jede Vorbehalte Uruha gegenüber über Bord, als sich ein feines Lächeln auf meine Lippen schleicht.

 

„Du hast dich wirklich in mich verliebt?“

Er nickt und irgendetwas sagt mir, dass ich mir die feine Röte nicht nur einbilde, die sich über seinen Nasenrücken zieht.

„Und es schreckt dich nicht ab, dass du mich nur mit Reita zusammen haben kannst?“

Ich habe meine Worte betont unverblümt gewählt, weil ich eine eben solche Reaktion aus Uruha herauskitzeln will. Und ich werde nicht enttäuscht, denn seine Gesichtsfarbe ist nun eindeutig dunkler, das erkenne sogar ich.

 

„Ganz im Gegenteil“, wispert er.

 

Wie interessant. Seine Worte schüren eine Ahnung in mir und ich frage mich, ob Reita die Chance beim Schopf gepackt und bereits selbst mit Uruha gesprochen hat. Wundern würde es mich nicht, mein Freund lässt nichts anbrennen. Innerlich entschuldige ich mich bei Reita, aber schiebe ihn für den Moment aus meinen Gedanken, um mich wieder voll und ganz auf den Mann vor mir konzentrieren zu können. Seine Finger finden die Meinen und für einen Moment schließe ich erleichtert die Augen, bevor ich mich vorbeuge und kurz vor seinen Lippen innehalte.

 

„Dann hast du jetzt sicher nichts dagegen, mich zu küssen oder?“

Sein Kopfschütteln sehe ich nicht, dafür spüre ich seinen Atem, der sich beschleunigt, bevor sich sein Mund auf den meinen legt. Sanft, zaghaft und seine Lippen schmecken salzig, sicher genau wie meine, als ich sie mit der Zungenspitze nachzeichne.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Ryo-ki
2024-05-17T20:27:41+00:00 17.05.2024 22:27
Endlich, das klärende Gespräch. Und es klärt tatsächlich. Ich bin ehrlich, ich war nicht sicher, ob wieder etwas ungesagt bleibt, das besser geklärt sein sollte, weil das in Geschichten oft der Fall ist und ich bin sehr dankbar, dass du das nicht gemacht hast. Ich möchte dann nämlich jedes Mal am liebsten ins Buch beißen, wenn ich ein solches in der Hand halte.
Du zeigst hier außerdem, dass trotz Klärung der wichtigen Fragen ein emotionales Auf und Ab entstehen kann, dass es längst nicht mangelnde Kommunikation braucht und entsprechende Inhalte ohnehin der viel bessere Konfliktpunkt sind (in diesem Fall vor allem Aois Reaktion auf Uruhas Erklärung, dass die Sehbehinderung es Uruha erst ermöglicht hat). Ebenfalls kommt hinzu, dass sich Konflikte eben nicht immer ewig in die Länge ziehen müssen (was ich jetzt auch störend empfunden hätte, nachdem es gerade die Funkstille gegeben hatte, es wird ja trotzdem oft genug in Geschichten praktiziert).
Danke, dafür.

Interessant finde ich, dass Aoi noch immer glaubt, etwas falschgemacht zu haben, obwohl Uruha das bereits an dem Abend verneint hat.

Und ich finde es wundervoll, wie offen Uruha sich Aoi mitteilt. Er hätte die Narbe nur erwähnen müssen, das wäre ein viel weniger eindeutiger Eindruck für Aoi gewesen, viel weniger genaue Vorstellung. Stattdessen lässt Uruha sie Aoi fühlen. Was Uruhas Vertrauen in Aoi zeigt, auch wenn ich sicher bin, dass Uruha sich dieses Ausmaßes nicht bewusst ist.

Während ich dann schon befürchtet habe, dass Reita doch als Thema unausgesprochen bleibt, ist es am Ende nicht so und auch hier zeigt Uruha erneut, wohin ihn dieses Gespräch manövriert hat, indem er ganz direkt sagt, dass er nicht abgeschreckt ist, sondern „Ganz im Gegenteil“. Sie hätten das auch lange ausdiskutieren können, sich vorsichtig herantasten, doch diese drei Worte allein sagen genauso viel aus.

So unglaublich viel Achterbahn schon wieder, aber in eine gute Richtung und mit einem sehr schönen Ende für dieses Kapitel. Nun bin ich gespannt, wie der Rest sich entwickelt und hoffe auf höchstens witzige Anlaufschwierigkeiten, aber nicht mehr zu viel Herzschmerz. Sie verdienen es alle, einfach nur glücklich zu sein.
Antwort von:  yamimaru
18.05.2024 18:19
Ja, ich war auch froh, endlich alles soweit klären zu können.
Was dein Verlangen angeht, wegen ungeklärter themen, die sich ewig hinziehen ins Buch beißen zu wollen, kann ich das absolut verstehen.
Ich wollte hier nicht noch mehr Konflikte. Ich wollte Ehrlichkeit, die Reaktionen darauf darstellen und Klärung, aus der sich niemand einfach wieder entzieht, sei es durch Schweigen oder flucht.
Das Schlimmste für mich in Geschichten sind Konflikte, die nicht hätten sein müssen, hätten die Protagonisten nur mal vernünftig miteinander gesprochen. Daher kam so ein Verhalten zu beschreiben hier für mich nicht in Frage.
Von daher, sehr gern geschehen. ^^

Manchmal kann man einfach nicht glauben, nichts falschgemacht zu haben, auch wenn einem das von der Gegenseite versichert wurde. Aoi konnte sich auf Uruhas Verhalten einfach keinen anderen Reim machen, als den, dass er einen Fehler begangen hat, zu weit gegangen ist oder Ähnliches. Ich denke, das geht vielen in ähnlichen Situationen so.

Absolut. Und im nächsten Kapitel habe ich auch hoffentlich anschaulich dargestellt, dass es etwas Besonderes ist, ein spezielles Vertrauen nur für Aoi und eines, das auf seine Situation abgestimmt ist, dass Uruha ihn die Narbe hat fühlen lassen. Das war durchaus eine bewusste Entscheidung von ihm, auch wenn ich deiner Meinung bin, dass er sich des Ausmaßes des gezeigten Vertrauens Aoi gegenüber vermutlich in dem Moment gar nicht so bewusst war.

Ich konnte Reita nicht unangesprochen lassen. Das war eine ganz egoistische Entscheidung meinerseits. *lacht* Aber schön, dass du bis zu seiner Erwähnung nicht ganz sicher warst, ob sie wirklich kommt. :D Ein bisschen Spannung muss sein. ^^

Ich hoffe einfach, dass dir die nächsten Kapitel auch noch gefallen werden. Diese haben sich deutlich leichter geschrieben und mir selbst so unglaublich viel Spaß gemacht. Ich hätte am Liebsten nie aufgehört. XD Vielleicht kommt ja noch die eine oder andere Überraschung, mit der du noch nicht rechnest. ;)

Herzlichen Dank für deinen lieben und ausführlichen Kommentar. Ich hab mich sehr gefreut, ihn zu lesen.
Alles Liebe
Yami
Von:  -Pharao-Atemu-
2024-05-17T09:44:44+00:00 17.05.2024 11:44
Das war aber nun ein Kampf... Man Uruha du tollpatschiges armes Ding. Aber ich kann es so gut nachvollziehen. Wenn man ständig wegen einer Äußerlichkeit fertig gemacht wird, dann möchte man irgendwann nicht mehr gesehen werden.
*ganz sanft patt*
Und Aoi, ach du bist so großartig. *flausch*

Wieder einmal ein tolles kapitel, kann das nächste gar nicht erwarten.
Antwort von:  yamimaru
17.05.2024 17:42
Huhu ^^
Danke für deinen Kommentar und es freut mich, dass dir auch dieses Kapitel gefällt. :D
Ich finde ja, die beiden sind hier generell großartig.
Aoi, weil er ein verständnisvoller Charakter ist und Uruha, weil er seinen Mut nicht verloren hat.
Ich bin auf sie beide stolz. <3
Alles Liebe
Yami
Von:  Gedankenchaotin
2024-05-17T09:39:26+00:00 17.05.2024 11:39
Hach, ds ist süß und traurig zugleich.
Ich kann beide Seiten verstehen und auch, dass sie verletzt sind. Aber ich bin froh, dass Uruha die Kurve bekommen hat.
Lass dir eins gesagt sein, Urulein: Man liebt nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen. Oder so.
Weisheit des Tages aka Mel.

Ein wunderschönes Kapitel mit einem Kuss, der glatt ein weiteres "Hach .. " in mir hervor ruft. ♥
Antwort von:  yamimaru
17.05.2024 17:40
Danke für dein Hach und deinen Kommentar. :D
Ich denke auch, dass bittersüß dieses Kapitel am besten beschreibt.
Es ist mir nicht so schwer gefallen, es zu schreiben, wie das mit Uruhas Flucht, aber leicht war es auch nicht.
Ich bin nur froh, dass Aoi so ein wunderbarer und verständnisvoller Charakter ist und dass Uruha seinen Mut nicht verloren hat. Ich liebe sie in diesem Kapitel beide für ihre Stärke. :D
Deine Weisheit des Tages ist sehr weise und ich kann diese nur genau so unterschreiben. Das stimmt halt wirklich und dennoch will uns die Gesellschaft und die Medien immer das genaue Gegenteil einreden. >.<
Alles Liebe
Yami


Zurück